Fast 800 Stipendiatinnen und Stipendiaten des Cusanuswerks trafen sich vom 24. bis zum 26. Mai 2013 in Schloss Eringerfeld, um im Rahmen ihres Jahrestreffens mit zahlreichen Experten über das Thema „Europa“ zu diskutieren.
Die öffentliche Wahrnehmung der EU konzentrierte sich in den letzten Jahren vorwiegend auf die Staatsschuldenkrise einiger Euro-Länder und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Wirtschafts- und Währungsunion. Das Jahrestreffen des Cusanuswerks ermöglichte einen breiteren Blick auf die Europäische Union. Wie kam es dazu, dass Nationen, die einander jahrhundertelang bekämpften, einen „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ schaffen wollten? Wie entwickelte sich dieser Zusammenschluss in den letzten Jahrzehnten? Welche Politikfelder bearbeitet man gemeinsam, welche bleiben in der Hand der Nationalstaaten? Und schließlich stellte sich vor diesem Hintergrund auch die Frage nach der Zukunft Europas.
In Vorträgen und Workshops ging es um die vielfältigen Facetten europäischer Politik – sowohl im Blick auf die Geschichte als auch auf aktuelle Entwicklungen.
Dr. Rainer Hank (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) stellte in seinem Eröffnungsvortrag „Der Ausnahmezustand. Europa in Zeiten der Gefahr“ die Vielgestaltigkeit Europas als Stärke und Schwäche zugleich dar. Von Anfang an habe die Auseinandersetzung zwischen zentralistischen und dezentralistischen Konzepten Europa geprägt – eine Diskussion, die mit dem Beginn der Euro-Krise wieder aktuell wurde. Hank plädierte gerade angesichts der gegenwärtigen instabilen Situation für einen Polyzentrismus und warnte vor einer Erosion nationaler Souveränität. Nichts spreche dafür, dass der Verzicht auf nationale Selbstbestimmung zur Behebung der Euro-Krise beitragen könne; transnationale politische Regelungsmöglichkeiten böten nicht das angemessene Instrumentarium.
In 13 Workshops wurden politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Aspekte diskutiert, die Europa prägen – von Demokratiefragen über Bildungspolitik, Medizinethik und Agrarpolitik bis zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit afrikanischen Ländern und dem Islam in Europa.
„Die Idee eines vereinten Europa in Zeiten kultureller Umbrüche“: Den Festvortrag hielt Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg und Verfassungsrichter a.D. Ausgehend von der Diagnose, dass Europa gegenwärtig unter einer schweren Belastung stehe, sah er in der Rückbesinnung auf die Grundidee Europas einen Weg aus der Krise. Der ursprüngliche Gedanke der Friedenssicherung, der Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft müsse wieder in den Vordergrund politischen Handelns gerückt werden – insbesondere angesichts einer Währungsunion, die nicht gleichzeitig eine politische Union sei. Der Vertrauensverlust, der mit der wirtschaftlichen Krise einhergehe, könne nur aufgehalten werden, wenn die Europäische Union wieder als Wertegemeinschaft verstanden werde; zu diskutieren seien vor diesem Hintergrund vor allem das Verständnis von Solidarität, die Überproduktion des Rechts, die in der EU zu beobachten sei, das Subventionswesen und das Steuerrecht. Kirchhof schloss mit dem Appell, einen elementar christlichen Gedanken in unsere Gegenwart zu übersetzen – das Bild nämlich, dass jeder seinem Stern folge und sich entsprechend seiner besonderen Begabung einsetze.
Im Rahmen der anschließenden Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Dr. Nils Ole Oermann von der Leuphana Universität Lünbeurg wurden diese Fragen kontrovers diskutiert; gemeinsam war allen Diskussionspartnern ein deutliches Plädoyer für das Engagement jedes EU-Bürgers.
Zelebrant des abschließenden Gottesdienstes war Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising. Kardinal Marx, geboren in Geseke, hat vielfältige Verbindungen zum Erzbistum Paderborn: Er war Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn und wurde 1996 im Dom zu Paderborn zum Bischof geweiht.
Neben den Diskussionen und Vorträgen bot das Jahrestreffen den Teilnehmern zahlreiche Gelegenheiten zur Begegnung – mit anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten, mit den Gastreferentinnen und -referenten und mit Ehemaligen.