In drei aufeinanderfolgenden Jahren lotet das Cusanuswerk die drei Dimensionen seines Leitbildes aus, das im Hinblick auf die Geförderten die Aspekte des Glaubens, des Engagements und der Leistung voraussetzt: Nach Kirche im Aufbruch (2022) mit der Thematisierung des Glaubens und der Macht des Helfens (2023), wodurch das Handeln für das Gemeinwohl ins Zentrum gestellt wurde, soll als Schluss-Stein im Bildungsjahr 2023/24 der Aspekt der Leistung thematisiert werden. Diese dritte Dimension, die für eine Institution der Begabtenförderung zum Kernbereich gehört, soll unter aktuellen Perspektiven in ihrer Unverzichtbarkeit wie in ihren Ambivalenzen diskutiert werden. Es geht sowohl um die Rolle von Leistung für die Gesellschaft, die Wirtschaft und das Gemeinwesen insgesamt als auch darum, wie sich das Verhältnis des Individuums zur Leistung, zu Verantwortung und Führung gestaltet. Schließlich sollen auch die Kosten und Risiken ins Blickfeld kommen: Leistungsdruck, Entsolidarisierung, Versagensangst, Impostor-Syndrom.
Der Leistungsbegriff lässt sich im Rahmen der Jahrestagung auf seine kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung hin befragen, er kann in seiner Normativität wie auch in seinen individuellen Erscheinungsformen betrachtet werden und ist nicht zuletzt im philosophischen Kontext von Bedeutung. Ein Blick auf den medialen Diskurs gibt Aufschluss darüber, wie das Thema in politischen und gesellschaftlichen Debatten verhandelt wird.
Was ist überhaupt „Leistung“? Schon die Definition sagt etwas darüber, aus welcher Perspektive wir argumentieren. Bedeutet Leistung, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu schaffen? Ist Leistung grundsätzlich messbar – oder gibt es Bereiche, etwa im Umfeld sozialer Tätigkeiten, in denen das nicht sinnvoll oder möglich ist? Welche Kriterien gelten im Wissenschaftsbereich und wie ist das Verhältnis von Leistung, Bildung und Begabung?
Im Blick auf das Individuum stehen zunächst psychologische Aspekte im Zentrum des Interesses – etwa Leistungsmotivation und die positive Erfahrung der Selbstwirksamkeit, aber auch die negativen Auswirkungen einer aus der Balance geratenen Leistungsbereitschaft wie zum Beispiel die Erfahrung von Druck, Fremdbestimmung und Stress. Wer sich weitgehend über die individuelle Leistungsfähigkeit definiert, ist im beruflichen Umfeld zunächst einmal gut aufgestellt. Wie wichtig ist eine hohe Leistungsbereitschaft für den beruflichen Erfolg und das Selbstwirksamkeitsempfinden, aber auch für soziale Anerkennung und für die Lebenszufriedenheit? Welche anderen Faktoren gewinnen hier an Bedeutung?
Im gesellschaftlichen Kontext wird Leistung auch als Verpflichtung für die Gemeinschaft und als Beitrag zu ihrer Entwicklung verstanden. Entsolidarisiert man sich, wenn man diese Leistung nicht (mehr) erbringt? Die Antwort fällt leichter, wenn man die historische Entwicklung der Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle betrachtet, die das Leistungsprinzip in seinen sehr unterschiedlichen Formen hervorgebracht haben. Seit wann gilt Leistung als Legitimation für die Rolle des einzelnen in der Gesellschaft? Ein Beispiel wäre die Idee der Meritokratie, aber auch jedes andere Modell, das die Rollen in Staat und Gesellschaft nach dem Prinzip von Verdienst und Kompetenz verteilt, kann hier diskutiert werden. Hinzu kommt die Frage, ob „die Gesellschaft“ selbst etwas leisten kann – auf einer Ebene, die dem Individuum allein nicht zugänglich ist.
Auch das Christentum spielt eine wichtige Rolle – zum einen mit seinen Perspektiven auf den „Wert“ der Leistung in der Welt (wie sie sich etwa in Max Webers Theorie der protestantischen Ethik zeigt), zum andern in der historisch variierenden Ausdifferenzierung des individuellen Verhältnisses zu Gott: Muss man etwas leisten, sich disziplinieren, um der Zuwendung Gottes würdig zu sein?
Laut YouGov-Umfrage (HDI Berufe-Studie 2022) würden von den Vollzeitbeschäftigten, die jünger als 40 Jahre alt sind, 51 % in Teilzeit arbeiten, wenn der Arbeitgeber dies zuließe, und 88 % plädieren für die 4-Tage-Woche. Der „Corona-Knick“ hat diese Haltung noch verstärkt: „Ich würde so schnell wie möglich mit meinem beruflichen Arbeiten aufhören, wenn ich es finanziell nicht mehr nötig hätte.“ In der ersten HDI Berufe-Studie 2019 stimmte rund jede(r) dritte Berufstätige in Deutschland dieser Aussage zu, drei Jahre später liegt die Zustimmung bei 56 Prozent – also um mehr als ein Drittel höher.
Auch wenn Leistung nicht ausschließlich auf den Bereich der Arbeit zu beziehen ist, stellt sich hier doch die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft, für den Erhalt des Sozialstaats, hoher Sozial- und Umweltstandards ergeben – gerade auch vor dem Hintergrund einer sich verändernden Weltordnung, von Systemwettbewerben, von demographischem Wandel, von Migration… Sind Degrowth und ein bedingungsloses Grundeinkommen sinnvolle Alternativen zum „Höher-schneller-weiter“ der sog. Leistungsgesellschaft? Und: Ist es noch sinnvoll, eine Leistungs- und Verantwortungselite zu fördern?
Schließlich ist nach dem Preis von Leistung zu fragen. Die Erwartung, dass hohe Leistungen zu erbringen sind, wirkt sich auf das Wohlbefinden und die Gesundheit des Einzelnen aus – natürlich auf sehr individuelle Weise. Eine große Motivation, das Streben nach Selbstoptimierung und eine hohe Verantwortungsbereitschaft sind gerade in Führungspositionen anzutreffen, können aber leicht kippen und in Überlastung münden. Diese Gefahr wird dadurch verstärkt, dass man sich mit Leistung exponiert und somit auch angreifbar macht. Die Resilienzforschung beschäftigt sich seit langem mit individuellen Strategien gegen Stress, die nicht zwingend dazu führen, dass man die persönliche Leistungsbereitschaft reduziert. Wenn „Leben“ und „Arbeiten“ in eine Balance gebracht werden sollen: Handelt es sich hier um Gegensätze? Welche alternativen Lebensentwürfe sind denkbar? Die Frage nach den individuellen und sozialen Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit schließt sich an und ist eng verknüpft mit der Debatte über Gerechtigkeit in der Gesellschaft.
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